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  2017 06 11

Zur Situation des Menschen

Treffender als ich es hier vermag, hat Michael R. Krätke die gegenwärtigen Gefahren und Herausforderungen für eine demokratische Weiterentwicklung der modernen Zivilisation beschrieben:

„Denn das unterscheidet diese Krise von allen früheren großen Krisen in der Geschichte des modernen Kapitalismus. Wir haben es nicht nur mit einer Weltfinanzkrise und einer Weltwirtschaftskrise zu tun. Wir stehen gleichzeitig unter dem Problemdruck des weltweiten Klimawandels und wir befinden uns mitten in einer Welthungerkrise, auch wenn wir in den reichen Ländern davon nicht viel merken. Unsere Weltordnung kracht in allen Fugen, und sie droht kriegerisch zu explodieren. Der Klimawandel setzt uns unter Zeitdruck. Uns bleiben nur noch zehn bis fünfzehn Jahre für einen radikalen Umbau der Industriegesellschaften – und zwar überall auf der Welt. Wir müssen unsere gesamte Arbeits- und Lebensweise radikal umstellen in weniger als einer Generation. Die berühmte „Nachhaltigkeit“, von der alle Welt inzwischen unablässig faselt, wir müssen sie jetzt, inner­halb weniger Jahre erreichen, indem wir unsere gewohnte Weise zu leben, zu essen, zu wohnen, zu reisen, zu kommunizieren, zu arbeiten gründlich verändern. Und zwar auch um den Preis, dass dabei der gute alte Kapitalismus mitsamt seinen angeblichen ökonomischen „Gesetzen“, mitsamt seinen Irrationalitäten, mitsamt seinen schreien­den sozialen Ungerechtigkeiten, mitsamt seinen schönen Ideologien, mitsamt seinen Klassenprivilegien auf der Strecke bleibt. Nicht um eines sozia­listischen Ideals, nicht um einer Utopie, sondern um des Überlebens der Gattung Mensch willen. Auch, damit die Regierung durch das Volk und für das Volk nicht von dieser Erde verschwindet und durch einen wüsten Reigen von Eliten-Despo­tien ersetzt wird. In diesem Sinn bedeutet die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise in der Tat eine Chance, die Chance zum radikalen, demokrati­schen Umbau des Kapitalismus. Es dürfte nach menschlichem Ermessen die letzte sein. Jetzt, in den nächsten Jahren, muss sich erweisen, was das inzwischen zum Ritual gewordene Gerede von der Verantwortung gegenüber den kommenden Gene­rationen wert ist. Jetzt, nicht morgen, muss die europäische Linke zeigen, dass sie Mut und Verstand hat.”

Michael R. Krätke, 2009
http://www.spw.de/data/krtke.pdf


Michael R. Krätkes Charakterisierung der Weltlage von 2009, kurz nach Ausbruch der Finanzkrise veröffentlicht, ist für mich immer noch der wichtigste Text zur Situation der Menschheit, der in den letzten Jahren geschrieben worden ist. Außerordentlich prägnant erfasst er die Probleme, Bedrohungen und Herausforderungen denen die Menschen im 21. Jahrhundert gegenüberstehen.
Leider hat Krätke, der Professor für Politische Ökonomie an der Lancaster University ist, meines Wissens seitdem selbst keine Texte veröffentlicht, die als Vorschläge für eine eingreifende Politik gewirkt haben, auch wenn er immer wieder Artikel zur europäischen Wirtschaftspolitik veröffentlicht hat.
So bleibt seine zentrale politische Feststellung, die Notwendigkeit eines „radikalen“ Umbaus der Industriegesellschaften und einer ebenso radikalen Veränderung „unserer gesamten Lebens- und Arbeitsweise“ ein bloßer Appell, der wenig Handlungsorientierungen gibt.
Seit Krätke seinen Text geschrieben hat, sind die Probleme nicht kleiner geworden. Die Unterdrückung und das Elend, die in den dunklen Regionen Asiens und Afrikas grassieren haben in der Form von Krieg, Terrorattacken und Massenflucht die Grenzen Europas erreicht.
Einige Länder Europas haben 2015 und 2016 viele Flüchtlinge aufgenommen. Doch insgesamt ist die Reaktion der Europäer das Gegenteil von dem, was Krätke zu Bewältigung der Menschheitsbedrohungen fordert: statt sich der Verantwortung für die Weltlage bewusst zu werden, die Industriegesellschaften umzubauen um den globalen Krisen entgegenzusteuern und eine gerechtere Weltgesellschaft schaffen zu können, erstarren die westlichen Industriegesellschaften zunehmend zu ängstlichen, armen- und fremdenfeindlichen, aggressiven Abschreckungs-, Sicherheits- und Verteidigungsgesellschaften.

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